Die Schweiz ist doch so ein liebes Land, also muss man ihnen
doch verzeihen, dass sie mit ihrer Tell-Propaganda die ganze
Welt anlügen.
Titelblatt der Zeitschrift "Taxi. Magazin für Soziales und
Kultur" vom April 2011
April 2011: Wenn Gerüchte nicht korrigiert
werden, werden falsche Helden geboren - zum Beispiel
ein Wilhelm Tell
aus: Fabian Brändle: Zapatas Schimmel; In: Taxi; April
2011; S.8-9
Bemerkung:
Eine Bevölkerung, die nicht lesen und schreiben kann - und
in Europa waren grosse Teile der Bevölkerung bis ins 19.
Jh. noch Analphabeten - eine solche Bevölkerung ist sehr
anfällig, jedes Gerücht zu glauben, das von einer Person
kommt, die eine Uniform oder ein bestimmtes Gewand eines
Amtes trägt. Der Artikel zeigt Beispiele, darunter auch
die falsche Fantasie eines Wilhelm Tell in der Schweiz.
Buchempfehlungen:
-- Selbin, Eric: Gerücht und Revolution. Von der Macht des
Weitererzählens. Darmstadt 2010.
-- Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift,
Erinnerung und politische Identität in frühen
Hochkulturen. München 1992.
[Beispiel:
Bauernrevolutionär Zapatas in Mexiko 1919 erschossen -
und lebt im Mythos als "Schimmelreiter" weiter]
<Der mexikanische Bauernsohn und Revolutionär Emiliano
Zapata (1879-1919) ist eine legendäre Gestalt, auf die
sich Revolutionäre in Lateinamerika, etwa die "Zapatisten"
im Chiapas unter Subcommandante Marcos, bis heute berufen.
Zapata führte zusammen mit einfachen Landarbeiern einen
Guerillakrieg gegen die Armee des Diktators Porfirio Diaz.
Im Jahre 1919 wurde er in einen Hinterhalt gelockt und von
Schüssen regelrecht durchsiebt. Berühmt wurde er als
mythischer Schimmelreiter, der überall dort auftauchte, wo
sich Arme und Entrechtete zur Wehr setzten.
Den kubanischen Revolutionären von 1959 um Fidel Castro
und Ernesto "Che" Guevara war er Vorbild, und kubanische
Truppen trugen zur Verbreitung des Mythos in Angola und
Mozambique bei.
[Politologe Eric Selbin:
Buch: "Gerücht und Revolution. Von der Macht des
Weitererzählens"]
Es sind Geschichten wie jene von Zapatas Schimmel, die den
amerikanischen, in Austin, Texas, lehrenden Politiologen
Eric Selbin zum Schreiben des Buches "Gerücht und
Revolution. Von der Macht des Weitererzählens" animiert
haben. Auf Deutsch erschien das Werk 2010 bei der
Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt. Entstanden
ist ein packender, von Liandra Viola Rhoese flüssig
übersetzter, nicht allzu umfangreicher Text, der nicht nur
einen Überblick gibt über die grossen Revolutionen der
Weltgeschichte, sondern auch Informationen liefert über
die Gestrauchelten und Gescheiterten dieser Erde,
Menschen mit Visionen und Träumen, die an den kruden
Verhältnissen gescheitert sind, aber oft Stoff für
erfolgreichere Nachahmungen boten.
Mythen, Erinnerung,
Mimesis
Generationen von Revolutionsforschern haben sich bemüht,
die strukturellen Ursachen von Widerstand, Rebellion und
Revolution zu ergründen. Natürlich gibt es unleugba
strukturelle Gründe dafür, warum sich Menschen gewaltsam
wehren, die Gesellschaft nach ihren Wünschen umkrempeln
wollen und danach trachten, die Welt freier und sozialer
zu gestalten: Armut, extreme, soziale Ungleichheit, ein
tyrannisches, verschwenderisches Regime, Gefängnis, Folter
und gewaltsamer Tod von Oppositionellen, Fremd- und
Kolonialherrschaft, Aufklärung der Unterjochen, um nur
einige zu benennen. Doch machen Strukturen alleine keine
Revolutionen aus, denn hinter jeder Erhebung stecken
Menschen, die aufbegehren, sich organisieren, kämpfen,
verlieren, leiden und triumphieren. Diese Akteurinnen und
Akteure werden massgeblich von Geschichten ("stories")
beeinflusst, von Geschichten, die zum Teil uralt sind, von
Geschichten, die mitreissen und zur Nachahmung reizen.
[Der falsche Auszug von
Moses aus Ägypten wird Vorbild für Sklavenbefreigung in
Nord- und Mittel-"Amerika" - der Pharao wird als
Plantagenbesitzer umgedeutet]
Eine in unserem Kulturkreis allseits bekannte Geschichte
ist das zweite Buch Mose, "Exodus". Die Geschichte von der
gottgeleiteten Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei
wurde von zahllosen Unterdrückten, etwa amerikanischen
oder karibischen, schwarzen Sklavinnen und Sklaven, als
Programm gelesen, sich selber zu befreien:
"Go down, Moses, Way down in Egypt land, Tell old Pharaoh,
Let my people go."
Die Figur des grausamen, skrupellosen Pharaos eignete sich
dabei besonders gut, als Verkörperung unrechtmässiger
Herrschaft interpretiert und beispielsweise mit einem
brutalen Plantagenbesitzer identifiziert zu werden. Auch
die jüdisch-christliche Überlieferung kennt also einen
Korpus an revolutionären Geschichten.
Wir bewegen uns also in der Sphäre des Mythischen und der
Erinnerung. Noch heute lesen und diskutieren Juden die
Tora in der Synagoge, Jahr für Jahr, Kapitel für Kapitel.
Wir haben es also beim Exodus mit einer besonders dicht
erinnerten, geschichtsmächtigen Geschichte zu tun.
[Die Gerüchte kommen oft
von den Königshäusern selbst - und dann noch mit
"Feiertagen" und mit falschen Denkmälern, Ritualen etc.]
Dabei hatten oft die Mächtigen aus Königshäusern und
Tempeln Mythen kreiert, um ihre Herrschaft zu
legitimieren. Besonders erfolgreich waren sie, wenn sie
ihre Mythen mit Elementen aus der Volkskultur anreicherten
und somit eine breite Affirmation [Bestätigung] der
herrschenden Zustände erreichten. Die Erinnerung an die
Machtübernahme einer bestimmten Familie oder Gruppierung
geschah (S.8) beispielsweise an hohen Festtagen mit Hilfe
von speziellen, ausgefeilten Ritualen. Auch Denkmäler,
andere Erinnerungsorte ("Lieux de mémoire") und "heilige"
Schriften hatten zum Teil den Zweck, die Herrschaft zu
zementieren.
[Falsche Mythen und
falsche Erinnerungen können eine soziale Sprengkraft
entwickeln - Beispiel des "Alten Ägyptens"]
Doch besitzen Mythen und Erinnerung eine soziale
Sprengkraft, sie sind nicht so konservativ und
systemstabilisierend wie einst geplant. Daran erinnert
nicht zuletzt der bedeutende, deutsche Ägyptologe Jan
Assmann mit seinen Überlegungen zum "kulturellen
Gedächtnis" einer Gesellschaft. Wie Assmann und, sich an
ihn anlehnend, auch Eric Selbin schreiben, haben Mythen
eine
nicht
steuerbare Eigendynamik. Periodisch wird nämlich
an ein mythisches, goldenes Zeitalter erinnert, als weise
Herrscher den Thron bestiegen haben und nur das Beste für
das Gemeinwohl im Sinn hatten. Dieses goldene Zeitalter
wird nun gespiegelt an der elenden Gegenwart, die so viel
vom Glanz der Vergangenheit verloren hat. Die mythische
Zeit wird zum Sehnsuchtsort für die Leidenden, und
manchmal genügte ein Funke, um eine kraftvolle Erhebung
mit dem Ziel der Rückgewinnung der guten , alten Zeit zu
bewerkstelligen.
Mythen haben einen Motor:
Tell als Beispiel - [die Erfindung eines Tell und eines
Tyrannen Gessler - Bauernkrieg 1653 gegen Patrizier als
Kopie des erfundenen Tell]
Ich bringe ein bekanntes Beispiel aus der schweizer
Geschichte, um diese Theorie zu illustrieren. Im 15.
Jahrhundert legitimierten sich die Eidgenossen gegenüber
den Fürsten der Umgebung, die sie als dumme Bauern
verachteten und ihnen einen Staat verweigerten. Sie
kreierten einen besonders lasterhaften Tyrannen, den
Habsburger Landvogt Gessler, der die Waldstätte mit seinen
Truppen zusammen drangsaliert habe[n soll]. Die Erhebung
gegen diesen [angeblichen] Tyrannen war nur gerecht, denn
seit dem Hochmittelalter war sogar der Tyrannenmord
legitim. Als Held im Kampf erfand man Wilhelm Tell, der
die wackeren Eidgenossen führte und Gessler schliesslich
mit seiner Armbrust erschoss.
Doch auch dieser Mythos vom Tyrannenmörder hatte einen
Motorik. Bald nämlich identifizierten die beherrschten
Eidgenossen die neuen, schweizerischen Herren aus dem
einheimischen Patriziat mit den fremden Vögten. Widerstand
gegen sie wurde so ebenfalls legitim. Im Bauernkrieg von
1653 und verschiedenen kleineren Rebellionen wurde der
"schlafende Tell" geweckt und gegen die neuen Bedrücker
ins Feld geführt. Wichtig war dabei auch die Mimesis, die
Nachahmung früherer Generationen. Wenn diese es gekonnt
haben, dann können wir es auch, so der Tenor.
[Revolutionen in
Frankreich werden auch Lenin zum Vorbild]
Gleichsam als soziale "Urrevolution" wirkte dabei später
die grosse Französische Revolution von 1789-1796, die
späteren Revolutionären und Revolutionärinnen als Vorbild
diente und nichts von ihrer Attraktivität verloren hat.
Doch auch in Vergessenheit geratene Revolutionen wie die
Pariser Kommune von 1871 waren zeitweise sehr
wirkungsmächtig. Auf deren Rote Fahnen etwa bezog sich
nicht zuletzt Lenin, der Anführer der siegreichen
Bolschewiken in der Oktoberrevolution von 1917. Lenin war
nicht zuletzt beeindruckt von der festlichen Atmosphäre,
welche die Kommune begleitete. Die Oktoberrevolution
wiederum war Vorbild für zahlreiche, kommunistische
Revolutionen in der Ersten und in der Dritten Welt. Auch
sie fand also viele Nachahmungen in der ganzen Welt.
[Die Rebellion der
Getreidearbeiter in den "USA" gegen den Kriegseintritt
von 1917]
Eric Selbins Buch erzählt die grossen Revolutionen
souverän nach, vom deutschen Bauernkrieg 1525 bis
Nicaragua und Iran 1979. Doch hat der Autor auch ein
Auge für gescheiterte Rebellionen, etwa die "Green Corn
Rebellion" von 1917 in Oklahoma, als sich sozialistische,
von Marx wie Jesus beflügelte Landarbeiter aller
Hautfarben daran machten, gewaltsam gegen den
Kriegseintritt der USA vorzugehen und sogar nach
Washington marschieren wollten, um Präsident Woodrow
Wilson zu stürzen. Die Rebelen schrieben jedoch auch
soziale Gerechtigkeit auf ihre Banner. Militär und
Nationalgarde erstickten ihre Aktionen im Keime, und lange
Zeit erinnerte kein Geschichtsbuch an ihre Taten. Das
ändert sich nun. Und wie aktuell die allseits erzählten
Geschichten von Widerstand und Befreiung sind, beweisen
die jüngsten Ereignisse in Tunesien, wo die
Selbstverbrennung eines unterbeschäftigen Studenten
gewaltsame Proteste verursachten, die zum Sturz des
langjährigen Diktators Ben Ali führten. Die so genannte
"Jasminblütenrevolution" ist nach den diversen
"Farbenrevolutionen" in den ehemaligen Ostblockstaaten ein
weiterer, sprechender Beweis dafür, dass wir noch lange
nicht am Ende der Geschichte angelangt sind, oder, wie der
amerikanische Musiker Tom Petty in anderem Zusammenhang
sang: "The future was wide open".> (S.9)